Gefühle
Geschenke des Herzens
Vor langer, langer Zeit lebte am Ufer des Mekong-Flusses ein Waisenkind mit Namen Wa. Seit sie groß genug war, einen Korb Reis auf dem Rücken zu tragen arbeitete sie für den Dorfältesten.
Alle Dorfbewohner arbeiteten Tag für Tag schwer und lange. Und genau wie alle anderen erhielt Wa kaum genügend zu essen für ihre Arbeit. Sie musste helfen hohe Bäume zu fällen und wenn der Reis reif war schälte sie von morgens bis abends die Hülsen ab. Vom Holzfällen hatte sie Blasen an den Händen und von den rauen Reisspelzen juckten ihre Finger und waren wund. Daher sammelte sie jeden Abend Kräuter, um sie auf die schmerzenden Hände zu legen. Im Laufe der Zeit gewann sie so viele Kenntnisse über die Heilkraft der verschiedenen Pflanzen du die anderen Dorfbewohner kamen oft mit ihren Wunden zu ihr.
Eines Tages kam ein Bote des Dorfältesten und befahl Wa das Reishaus zu bewachen, das auf Pfählen nahe einem Reisfeld stand. In diesem Haus lagerte der ganze Vorrat und das hungrige Mädchen sehnte sich nach etwas zu essen, aber sie erinnerte sich auch an die Warnung ihres Herrn: „Mein Reis wird von einem bösen Geist bewacht. Wenn du nur ein einziges Korn isst, wird der Geist in dich fahren. Dann wirst du sterben und dich in ein Reiskorn verwandeln.“
Die Arme war vor Angst wie gelähmt und bleib lieber hungrig. Im Traum sah sie, wie ihr Herr von den Reisvorräten immer fetter und reicher wurde, während die Dorfbewohner, die für ihn arbeiteten, immer dünner und kränker wurden.
Eines Nachts wurde sie durch einen heftigen Tritt in die Seite aus dem Schlaf geweckt. Es war der Sohn des Dorfältesten, der sie anschrie: „Du faules Schwein! Füll diesen Eimer mit Wasser bis ich zurückkomme!“
Wa sprang erschrocken hoch und rannte schnell zum Fluss, um den Auftrag auszuführen. Als sie sich seufzend bückte, um den Eimer zu füllen, überspülte der Fluss sanft ihre Füße. Ganz plötzlich aber schäumte das Wasser auf und sang, so dass sie voll Angst aufs Trockene zurücksprang.
Da tauchte aus dem im Mondlicht glänzenden Schaum ein hochgewachsenes Mädchen auf, das ein langes, schimmerndes Gewand trug. Sie trat zu Wa, ergriff ihre zitternde Hand und sagte: „Die jüngste Tochter des Wassergeistes ist krank. Unsere Kobolde sagen, dass du, Wa, dich mit Kräutern auskennst und sie heilen kannst. Komm mit mir und hilf ihr.“
„Nein, nein, das kann ich nicht“ rief Wa. „Ich muss hier das Reishaus bewachen. Wenn mein Herr herausfindet, dass ich nicht da bin, wird er mich sicher töten.“
Da öffnete sich ein Weg vor ihr und das Mädchen führte Wa in die Wassertiefe hinab. Dort versuchte Wa das kranke Kind, das, wie man ihr sagte, von einem Skorpion gebissen worden war, als es am Ufer spielte. Drei Monate lang hatte es mit einem Fieber darnieder gelegen und konnte weder essen noch schlafen. Wa berührte die Wunde und trug den Geistern auf, welche Kräuter sie suchen sollten. Drei Tage nachdem sie die Kräuter angewendet hatte, war das Mädchen wieder gesund.
Der Wassergeist war außer sich vor Freude und frage, was Wa zur Belohnung wollte. Wa antwortete: „Ich wünsche mir nur, dass ich mein hungriges Volk retten und alles tun kann, um ihm zu helfen.“
Da reichte ihr der Wassergeist eine kostbare Perle und sagte: „Was immer du dir wünschst, die Perle wird es dir erfüllen.“
Wa dankte dem Wassergeist und kehrte aufs Land zurück. Bei ihrer Rückkehr sah sie entsetzt Vogelspuren rings um das Reishaus, das sie im Stich gelassen hatte. Die Vögel hatten die Hälfte der unbewachten Vorräte aufgefressen.
In dem Augenblick kam ein alter Mann vorbei und sagte: „Wo bist du in den letzten drei Monaten gewesen? Diese Diebesvögel haben den Reis des Herrn gestohlen. Er sucht nach dir und sein Zorn ist schrecklich.“
Wa setzte sich nieder und vergrub den Kopf in den Händen. Sie dachte, sie wäre nur drei Tage fortgewesen. Sie weinte, bis ihr dünnes Kleid von den Tränen ganz durchnässt war. Doch dann fiel ihr die kostbare Perle wieder ein. Sie zog sie hervor und sagte: „Perle, wunderbare Perle, bring mir Reis zu essen.“
Sofort erschien vor ihr eine große Bambusschale mit Reis, unter den allerlei Speisen in vielen Farben gemischt waren. Hinter ihr war ein Reislager zu sehen, das dreimal so groß war wie das Reishaus des Herrn.
Wa zog die Perle hervor und sagte: „Perle, wunderbare Perle, bring mir ein Haus, ein paar Büffel und ein paar Hühner“. Fast noch im gleichen Moment erhob sich vor ihren Augen ein großes Haus auf Bambuspfählen, ein paar Hühner scharrten davor auf der Erde herum und daneben zwei stämmige Büffel.
Am nächsten Morgen machte sich Wa auf den Weg zum Haus des Dorfältesten. Als er das Mädchen erblickte brüllte er sogleich: „Hier kommt der wertlose Haufen Kuhdung, der meinen Reis gestohlen hat. Ich werde ihn den Tigern in den Bergen vorwerfen!“
„Es war nicht meine Schuld, dass du deinen Reis verloren hast.“ Erwiderte Wa kühn. „Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde alles ersetzen, was du verloren hast. Schick nur deinen Sohn zu mir es abzuholen.“
Der Sohn des Dorfältesten schnaubte: „Ich komme gleich mit. Und wenn du auch nur ein einziges Körnchen zu wenig ablieferst, werde ich deinen Kopf auf einer Schale hierher zurückbringen!“
Als Wa und der Sohn des Dorfältesten an Was prachtvollem Haus mit seinem riesigen Reislager ankamen, blieb ihm vor Überraschung der Mund offen stehen und die Augen sprangen ihm fast aus dem Kopf. „Nimm, was du willst“ sagte Wa. „Ich gehe zum Fluss fischen.“
Der Anblick ihres Reichtums beeindruckte den Mann so sehr, dass er Wa nun mit anderen Augen betrachtete. „Ich will deinen Reis nicht“ stammelte er. „Ich will dich heiraten.“
Als er wieder nach Hause kam und alles seinem Vater berichtete, rief der wütende Dorfälteste seine Wachen herbei und befahl ihnen das Mädchen umzubringen und ihr Haus in Besitz zu nehmen. Aber die guten Dorfbewohner warnten sie vor den Plänen des Herrn. Wieder nahm das Mädchen seine Zauberperle hervor und sagte: „Perle, wunderbare Perle, beschütze mich vor dem bösen Mann.“
Da sprang plötzlich eine riesige Gebirgskette rings um das Haus des Dorfältesten aus dem Boden. Er und seine Männer konnten die Felsen nicht übersteigen und das arme Volk nie wieder belästigen.
Die weise, gerechte Wa aber teilte ihren Reichtum mit den Dorfbewohnern, die nie wieder Hunger leiden mussten und sie beschütze sie stets mit ihrer wunderbaren Perle.
Wie Wa lebt die Frau, die gegen eine Essstörung ankämpft, in einer Welt, die aus Verantwortung, Pflichten und Versagungen besteht. Sie ist stets hungrig, weil es in dieser Welt keinen Platz für das gibt, was sie fühlt und was sie will. Ihr Leben wird von den Werten eines „Dorfältesten“ kontrolliert, der in ihr lebt – einem inneren Tyrannen, der sie antreibt, immer mehr zu tun und sich dann weigert sie anständig für ihre harte Arbeit zu entlohnen.
Dieser „Aufseher“ im Kopf verweigert ihr nicht nur angemessene Ernährung, sondern verlangt zudem, dass sie das Essen sorgfältig bewacht, aber nicht isst, wenn sie Hunger hat. Er flößt ihr die Furcht ein, dass der böse Geist der Verwöhnung von ihr Besitz ergreift, wenn sie auch nur einen winzigen Bissen isst und beschuldigt sie ein „faules Schwein“ zu sein.
Wenn eine Frau, die sich von ihrer Essstörung befreien will zum Fluss der Gefühle geht, der das Leben durchzieht, bekommt sie vielleicht Angst, wenn die Wasser ihrer Emotionen aufschäumen und singen. Wie Wa weigert sie sich möglicherweise anfangs sich in die Tiefen ihrer Gefühle zu stürzen (indem sie darauf besteht, dass sie ihr Essen bewachen muss), bis sie schließlich begreift, dass der Zorn der abgelehnten Emotionen schrecklich sein kann.
Wir lernen unsere Gefühle abzublocken, um unsere Angst vor ihnen zu bewältigen. Wir bauen Dämme, um den natürlichen Fluss abzubrechen. Wir entwickeln zwanghaftes Essverhalten, um uns von ihnen abzulenken. Statt auf unsere Gefühle zu achten und sie herauszulassen, denken wir an Essen, Fitnessübungen oder die Arbeit. Nach Jahren solcher Ablenkung sind unsere Gefühle so weit hinter den Vorhang unserer Obsessionen geschoben, dass wir den Kontakt zu ihnen verloren haben. Unsere Gefühle werden zu Fremden, die uns Rätsel aufgeben und uns erschrecken. Wir erkennen sie nicht mehr, können sie nicht identifizieren und ihnen keinen Namen mehr geben. Wir können nicht mit ihnen kommunizieren, können keinen Kontakt zu ihnen herstellen und sie nicht bewältigen. Wir sind uns ihrer nicht einmal gewahr, bis sie so intensiv werden, dass sie uns verschlingen. Dann wird unser Schmerz unerträglich, die Einsamkeit fühlt sich an, als würde sie niemals enden und unsere Wut drängt auf destruktive, gewaltsame Art hervor.
Wenn wir eine Zeitlang mit aufgestauten Gefühlen leben, baut sich der Druck in uns immer stärker auf. Es können körperliche Spannungen, Nervosität, Gereiztheit, Magenschmerzen und Kopfschmerzen entstehen, wenn wir Gefühle jahrelang in uns verstecken. Wie lernt man mit solchem Druck zu leben? Lenkt man sich ab, indem man sehr viel arbeitet, indem man Kalorien oder Pfunde zählt, eine Diät einhält oder indem man zwanghaft isst? Versuchst du ein Nachlassen der dauernden Spannung zu erreichen, indem du Sport treibst oder zu viel isst, um dich anschließend zu übergeben?
Wir müssen begreifen, dass nicht die Gefühle selbst den Kreislauf aus Heißhungerattacken und Erbrechen, zwanghaftem Essen, Fasten, Besessenheit mit Essen und Dicksein bewirken – sondern nur unser Versuch, die Gefühle selbst nicht zu empfinden.
Wenn wir unsere Gefühle nicht mehr als einen Feind betrachten, als etwas, das unsren Handlungen, unserem Denken und dem, was wir tun sollten im Wege steht, bauen wir eine andere Beziehung zu ihnen auf. Wenn wir uns mit unseren Gefühlen anfreunden, entdecken wir möglicherweise, dass sie zu Verbündeten auf der Reise werden, die unser Leben darstellt. Sie können uns zu tiefem Verständnis führen, wer wir wirklich sind und was wir wirklich wollen, ein Verständnis, das wir sonst nicht finden würden.
Die Heilung von gestörtem Essverhalten hängt davon ab, ob wir eine freundschaftliche Beziehung zu unseren Gefühlen aufbauen, neugierig auf die eingehen, sie nicht beurteilen und die Gaben annehmen, die sie uns darbieten.
Eine Frau, die ihre Beziehungen zu ihren Gefühlen ändern will, damit sie ihre Essstörung loswird, muss als erstes ein schärferes Bewusstsein von ihren Gefühlen entwickeln, damit sie sie genauer in sich spürt. Sie muss die verschiedenen Empfindungen in sich kennenlernen und darauf achten, wo sie sie in ihrem Körper spürt. Das hilft ihr die Gefühle voneinander zu unterscheiden.
Statt die Gefühle zu verwechseln und sie nur vage zu umschreiben – wie etwa „schlecht“, „durcheinander“, „okay“ – muss sie lernen, sie genauer und gründlicher zu definieren. Sie muss in der Lage sein, beispielsweise Wut zu erkennen und zu merken, dass sie sich anders anfühlt als Frustration, Erschöpfung oder Gereiztheit. Als nächstes muss sie lernen ihre Gefühle ohne Bewertung oder Verurteilung zu akzeptieren und verstehen, dass es keine richtige oder falsche Art des Empfindens gibt. Manche Gefühle sind zwar angenehmer und gesellschaftlich akzeptabler als andere, aber kein Gefühl ist den anderen überlegen. Verschiedene Gefühle bringen einem verschiedene Erfahrungen ein und bieten uns unterschiedliche Lehren an.
Schließlich muss die Frau ihre Gefühle deutlich und direkt ausdrücken. Ein angemessener Ausdruck für Traurigkeit ist es, zu weinen oder Tagebuch zu schreiben. Wut kann mit einer Freundin oder einem Freund oder mit dem Menschen, auf den man wütend ist, durchgesprochen werden – oder man geht unter die Dusche und schreit oder schreibt einen bösen Brief, den man nicht abschickt. Bei Einsamkeit kann es angemessen sein jemanden, mit dem man befreundet ist, anzurufen oder einen Brief an jemanden zu schreiben, den man vermisst. Manchmal braucht man auch überhaupt nichts zu tun, außer bei dem Gefühl zu bleiben, bis es verschwindet. Es geht darum angemessen auf das jeweilige Gefühl zu reagieren und nicht alle Gefühle voneinander zu unterscheiden. Man muss akzeptieren, ohne sie einzuordnen, und anerkennen, dass Gefühle keinen Sinn zu ergeben brauchen. Man muss sie nicht mögen, aber sie müssen akzeptiert werden. Und schließlich gehört dazu der ehrliche Ausdruck, wie man sich fühlt, sowie die Bereitschaft, aufrichtig und wahrhaftig zu handeln.